Theorie und Praxis
Theorie und Praxis                                     

Seitdem ich das Buch „Der Weg zur Verbesserung im Schach“ von Alex Yermolinsky gelesen (studiert ?!) habe, geistert vor meinem schachlichen Auge jedesmal der Begriff „Schiefe Ebene“ herum. Trotz intensiver Suche habe ich diesen Begriff aber in dem Buch nicht wiedergefunden, nur akribische Ausführungen zu schachlich-psychologischen Begriffen wie „Aufwärtstrend“ und „Abwärtstrend“.

Wie dem auch sei, für mich stellt Yermolinsky überzeugend dar, wie sich Züge zu einem Trend verdichten können, der mehr oder weniger unbewusst von den geplanten Erwägungen abläuft und damit dem Spiel eine Eigendynamik verschafft. Es entsteht eine „Schiefe Ebene“, auf der der Spieler entweder den Weg nach oben nimmt (Aufwärtstrend) oder aber nach unten (Abwärtstrend). Die Gefahr besteht darin, diesen Trend nicht zu erkennen und ihn damit gewissermaßen als Stellungsmerkmal zu unterschätzen.

Nun könnte man meinen, ein positiver Trend sei keine Gefahr und er verstärke wie von Zauberhand die eigenen Bemühungen. Weit gefehlt! Auch die Nicht-Erkennung einer aufwärts gerichteten, positiven Energie kann leicht zum Bumerang werden, wenn man in der konkreten Planung dagegen verstösst. Dies mag absurd klingen, aber letztlich wirkt sich ein Trend nur dann positiv aus, wenn die Grundlage seiner Entwicklung nachhaltig ist und nicht durch „trendschädigende“ Züge gestört wird.

Um etwas mehr Klarheit in die Überlegungen zu bringen, möchte ich wieder Yermolinsky zitieren. Er geht in seinem Buch von drei Zuständen aus:  dem Trendgleichgewicht, dem Aufwärtstrend und dem Abwärttrend.

Jeder Spieler, so Yermolinsky, hat für sich eine eigene, persönlich Einstellung zu diesen Zuständen und reagiert in diesen Phasen unterschiedlich. Wesentlich ist, dass man zuerst einmal diese Phasen erkennt. Wie oft glaubt man sich im Vorteil, während schon seit einigen Zügen das Gespenst der Stellungsverschlechterung die eigene Hand führte. Wie heißt es doch so schön: Selbsterkennung ist der erste Weg zur Besserung ! Leicht gesagt, aber die „gefühlte Überlegenheit“ ist nicht immer ein Freund der Selbstkritik.

Betrachten wir zuerst einmal den Abwärtstrend, der am einfachsten zu beschreiben ist, und unterstellen wir einmal, die eigenen Alarmglocken hätten geläutet. Was ist jetzt zu tun, wie kann man die Dynamik der Entwicklung durchbrechen ? Yermolinsky bietet drei Optionen an, die zu einer Trendwende führen können

- Fehlerloses Spiel kann zu einer Trendwende führen (Aufbau einer hartnäckigen Verteidigung)
- Fehler des Gegners, durch Schaffung von Stellungen mit verschiedenen Möglichkeiten.
- Materialopfer können versteckte Energien der Figuren freisetzen (sehr riskant ! - „Panikknopf“ !)

Jeder Spieler hat sicherlich Beispiele für diese Situationen, allerdings sind sie nicht immer offensichtlich. Das Ergebnis einer Partie schreibt man der Strategie oder der Taktik zu, dem besseren Endspielverständnis bzw. den Fehlern. Selten erkennt man, dass das Ergebnis auf Grund einer falschen Trend-Einschätzung zustande kam.

Diagramm 1: (Stellung nach 21…Te7 ?)

In der folgenden Partie Cors-Schröder, Oliver (5.7.2007) wurde ich „Opfer“ eines Abwärtstrends. Die Partie nahm nach dem Auslassen eines Gewinnzuges im 22.Zug den folgenden Bewertungsverlauf und man erkennt deutlich, dass die Partie endgültig erst viel später, nämlich im 32. Zug gekippt ist. Der Abwärtstrend begann aber viel früher - mit einer Serie von schwachen Zügen, bis schließlich ein finaler Patzer den Schlusspunkt setzt.

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(Oben: Bewertungsprofil der Partie)

Mit 22.Dh3 begann der Abwärtstrend bis zum 29. Zug, mit dem der Trend noch hätte ‚geheilt’ werden können.


Und so hätte die Partie verlaufen können, falls Weiß im 29. Zug mit 29.Txa1 fortgesetzt hätte.
(Unten: Bewertungsprofil „Trendumkehr“, keine weiteren Fehler vorausgesetzt)



Wie funktioniert eine gute Stellungsanalyse ?                                                                                                           28.12.2014


Es ist auch schon mir passiert (!), dass ich nach einer erfolgreichen Eröffnungsphase eine vielversprechende Stellung für das beginnende Mittelspiel erhalten habe. Damit beginnt gewissermaßen ein positiver Stress, die in der Stellung liegenden Chancen zu verwerten.

Üblicherweise beginnt man mit einer Stellungsanalyse und versucht, die vielversprechendsten Merkmale aufzulisten, zu strukturieren und zu priorisieren. Dies ist umso schwieriger, je komplexer eine Stellung ist. Die Stufen einer allgemeinen Stellungsanalyse sind bekannt und man durchläuft möglicherweise gedanklich diese Punkte:


1.  Materielles Kräfteverhältnis

2.  Vohandensein unmittelbarer Drohungen

3.  Lage der Könige (ihre Gefährdung)

4.  Beherrschung offener Linien

5.  Bauernstruktur, schwache und starke Felder

6.  Zentrum und Raum

7.  Entwicklung und Anordnung der Figuren

8.  Potentielle Stellungsmerkmale (Statik/Dynamik)


Aber wie soll man diese Merkmale bzw. Die Ergebnisse ihrer Beurteilung in einen praktischen Plan umsetzen ? Vielfach fängt man doch an, konkrete Züge zu berechnen bevor man eine allgemeine Beurteilung abschliesst. Davor sei natürlich gewarnt aber auf der anderen Seite bleibt am Brett häufig wenig Zeit, solche theoretischen Ansätze durchzuführen. Ein ganz anderer Aspekt ist außerdem die subjektive Beurteilung, die Bereitschaft, sich passiv oder aktiv zu verhalten, kurzum: Gefühl und Einstellung zur Partie.

Außerdem mag die Reihenfolge der Analyse eine Rolle spielen: bewerte ich zuerst die eigenen Stärken, dann erst meine Schwachpunkte und vor allem wie gleiche ich Defizite und Chancen mit denen des Gegners ab ?


In meiner Partie Cors-Dr.W.Pauli (Bessunger Pokal, 1. Runde) kam es nach der Eröffnung zu der folgenden Stellung, die ich als deutlich besser für Weiß eingeschätzt hatte. Trotz Materialgleichheit (1.), Fehlen unmittelbarer Drohungen (2.), sichere Stellung der Könige (3.), keine offenen Linien (4.) punktet Weiß aber mit starken Feldern (5.), mit Raumvorteilen (6.) und letztlich mit der Entwicklung seiner Figuren (7.). Objektiv aber sollte man in der Schlussfolgerung erkennen, dass diese Vorteile nicht leicht zu bearbeiten sind, denn Schwarz hat durchaus Möglichkeiten, seine Stellung zu verbessern (8.) und - bei schlechtem Spiel von Weiß - in Vorteil zu kommen.


Dies war die kritische Stellung nach dem Rückzug 17…Scd7,  deren Einschätzung mir im Spiel nicht gelang. Ich war subjektiv der Meinung, großen Vorteil zu besitzen, der sich bei aktivem weißen Spiel zwangsläufig in eine Gewinnstellung umwandeln sollte.

Eine längere Analyse zeigt folgende Merkmale:

- Weiß hat großen Raumvorteil, Schwarz steht beengt und hat weiße Felderschwächen

-  die Entwicklung beider Parteien ist so gut wie abgeschlossen,
- die Springerstellung auf f5 ist stark und kann nicht so leicht aufgelöst werden. (h6 ist    zweimal angegriffen, so dass sich g6 vorerst verbietet).

- potentiell könnten die weißen Schwerfiguren (Dd1, Te1) über die Diagonale d1-h5 bzw.    über die 3. Reihe zum Königsangriff geführt werden.

-  der Bauer d5 engt das schwarz Spiel ein, er kann bei Bedarf mit c4 gestützt werden.

-  der Lc2 kann potentiell über a4 (oder d3-b5) die schwachen weißen Felder  angreifen.

-  der Lb7 muss die schwachen Felder a6,c6 bewachen, der Lf8 könnte nach g7 gehen

-  Schwarz kann Gegenspiel mit den Bauervorstößen a7-a5 und  c7-c6 erreichen. Vorteilhaft
   für ihn wäre die Aufstellung g6/Lg7.


Fazit: Eine komplexe Mittelspielstellung mit guten weißen Vorteilen, die aber erst noch gesichert werden müssen. Ein falsches Vorgehen würde die Lage möglicherweise umkehren.

Damit bieten sich folgende Pläne an:


a) sofortiger Königsangriff mittels g4/h4/g5

b) Königsangriff mit Dame und Turm mittels Sh2/Te2/g3 Dd1-f3/g4/h5

c) Abtausch eines Verteidigers mittels Sf3-h2-g4 und Wiederschlagen mit h3xg4

d) Aufbau am Damenflügel mittels Ba2-a4-a5

e) ruhiges Lavieren, stützen des Bd5 und Beibehalten des Bb4, um dem schwarzen Springer das Feld c5 zu verweigern.

 

Und möglicherweise gibt es noch andere Pläne, die irgendwo dazwischen liegen. Ein ‚schachliches Schwergewicht’  aus meinem Schachverein hat mir folgende Einschätzung gegeben:


„..mir  gefällt 18.a3 noch besser. … damit konserviert Weiß seinen großen Raumvorteil, indem er den Bauern auf b4 sichert und verleiht dem beschriebenen Plan mit Sh2 weitere Kraft. Das mag ein bisschen vom persönlichen Geschmack beeinflusst sein (ich mag es nicht, wenn meine Gegner ohne Not Gegenspiel erhalten), ist aber sicher kein schlechter Plan. Bei der Verwertung solcher Stellungen gibt es aber naturgemäß ein Problem, das gerade in der Praxis oft Probleme bereitet. Um etwas zu erreichen, muss Weiß früher oder später voran gehen und hinterlässt dabei schwache Felder in der eigenen Position, die als Quelle von Gegenspiel dienen können. Außerdem sind übermäßige Abtäusche der Figuren (was ja auch unvermeidbar ist bei so einem Angriff) ebenso hinterlistig wie gefährlich, denn bei zu wenigen Figuren wandelt sich ein Raumvorteil in einen Nachteil der Kapazität. Gemeint ist: Bei sehr vielen Figuren auf dem Brett ist Raumvorteil gut, bei sehr wenigen reichen die Figuren oft nicht mehr, um alle Bauern/König/schwache Felder zu schützen.“
 

Der Versuch, die Stellung mit Hilfe des Computers zu lösen, gibt natürlich wesentliche Hinweise und vor allem taktisch gesicherte Abspiele. Aber man sollte in erster Linie seinem eigenen urteil trauen und - wie oben schon gesagt - vieles hängt vom Geschmack ab. Letztlich muss man den gewählten Plan auch verstehen und dann umsetzen können, ohne jedesmal am taktischen Abgrund Gratwanderungen zu machen.  Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass Deep FRITZ12 die Folgen 18.a4, 18.Sfh4 und 18.a3 nach eingehender Berechnung mit 19 Halbzügen priorisiert und zwar in dieser Reihenfolge.


In der folgenden Partieliste können Sie sowohl die Berechnungen von DF12 wie auch meine Partie nachverfolgen, wie sie gespielt wurde: Theorie&Praxis: Beispiel01:   


Daraus folgt, dass ein Stellungsvorteil manchmal viel schwieriger zu realisieren ist als man oberflächlich und subjektiv glaubt. Setzt man die Axt am falschen Ende an, kann man schon einmal auf die „Schiefe Ebene“ kommen und versteht dann gar nicht, warum.

Die „Schiefe Ebene“ im Schach - frei nach Alex Yermolinsky                                                                      5.10.2009

Nach seinem Vorstoß 57…b3 „sah“ ich mich nach der Folge 58.axb3 a3 !? zwei Drohungen ausgesetzt, die ich glaubte, nicht gleichzeitig parieren zu können:

a) 59. bxa3 Tc3+ mit Gewinn des Bauern b3 und anschließend des Springers auf f3
b) 59. bxc4   a2   mit Damenumwandlung, da der Turm den Bauern nicht mehr aufhält.           

Ich kapitulierte also vor diesen Drohungen und zog 58.a3 um in der Folge zu verlieren. Hätte man Zeit gehabt und das Schach-Sehen mit dem Schach-Berechnen verbunden, wäre womöglich nach 58.axb3 a3 der Zug ...

c) 59. Tg2 ! aufgefallen, der dem Turm über das Feld g1 die Kontrolle des Umwandlungsfeldes ermöglicht hätte. Nach der möglichen Folge 59…Tc1 60.bxa3 Tc3+ nebst Gewinn der beiden weißen Bauern, wären die Damenflügelbauern vom Brett verschwunden. Der Partieausgang wäre wohl Remis gewesen.

Auf 58.axb3! wäre auch die Antwort 58…Tb4 (drohend Tb3+ mit Springergewinn) nach 59.Tc2 für einen Gewinn nicht ausreichend gewesen, obwohl Schwarz nach 59…Txb3+ 60.Ke2 durch seinen permanenten Angriff auf den Bb2 risikolos auf Gewinn spielen könnte. Allerdings stehen ihm kaum noch Angriffsmarken zur Verfügung.


Fazit: Ohne eine konkrete Berechnung lassen sich komplizierte Positionen nicht wirklich erfolgreich behandeln. Zu groß ist die Gefahr, Nebenvarianten zu übersehen und damit die „Wahrheit“ einer Stellung nicht zu verstehen.

„Schach sehen“ vs  „Schach berechnen“


In meiner Partie gegen IM Roos, JL geriet ich ab dem 50. Zug immer mehr in Verlegenheit und sah mich gezwungen, meine Züge in hoher Zeitnot herunter zu blitzen. Damit achtete ich nur noch auf taktische Drohungen, für das Berechnen konkreter Spielzüge geschweige denn mittelfristiger Pläne hatte ich keine Zeit mehr. Es ging also darum, Drohungen und Paraden zu „sehen“, nicht sie zu berechnen.



Diagramm 2: (Stellung nach dem möglichen Zug 22. Sf5 !!)

Im Diagramm 1 hätte Weiß mit einem schönen Zug sofort auf die Gewinnerstraße einbiegen können.


22. Sf5 !!   


Die grünen Pfeile zeigen die Primär-, die roten Pfeile die Sekundärdrohungen. Schwarz hat jetzt keine bessere Chance als den Springer zu nehmen. Mit der Folge 23.Dxf5 mit Doppelangriff auf den Sg4 und den Tc8 hat Weiss die entscheidenden Drohungen auf seiner Seite.

Das Übersehen eines quasi Gewinnzuges leitet hier also den Abwärtstrend ein. Möglicherweise war mir unbewusst klar, dass es anstelle von 22.Dh3 einen besseren Zug geben musste. In der Folge hing ich dann möglicherweise dieser vergebenen Chance nach, anstatt mich um die Umkehrung des Abwärtstrends zu kümmern.


HIER kann die Partie ab Diagramm 1 nachgespielt werden.

(Der Artikel „Schiefe Ebene im Schach“ wird fortgesetzt - hoffentlich !)